Kinderheim in Panatau

Eine Zukunft für verlassene Kinder

Erfahrungen einer Schweizer Heimleiterin im rumänischen Dorf Panatau

Seit Ceausescus verheerender Familienpolitik besteht in Rumänien eine schwierige Situation mit verlassenen Kindern. Ein kleines privates Heim unter der Leitung einer Schweizerin leistet im Dorf Panatau einen Beitrag zur Linderung des Problems.

Rudolf Hermann, Panatau

Es ist kurz vor dem Mittagessen, im Spielzimmer läuft der Fernseher. Drei Knaben im Alter von acht bis zwölf Jahren verfolgen eine Trickfilm-Serie. «Ihr wisst doch genau, dass jetzt keine Fernsehzeit ist! Stellt bitte sofort ab!», werden sie unvermittelt von einer Frau angewiesen, die den Kopf durch die Tür gesteckt hat. Der älteste der Knaben nimmt die Fernbedienung, schaltet das Gerät aus, wirft darauf die Bedienung verärgert auf den Boden und stapft davon. Einer der Kleineren sucht die Batterien zusammen, die herausgesprungen sind, legt sie wieder ein und versorgt das Gerät ordentlich auf dem Gestell. Dann geht es zum Mittagessen.

Ceausescus Sozialpolitik

Es ist eine Szene, wie sie sich in jeder Familie abspielen könnte. Und in gewissem Sinne ist es auch eine Familie, die hier in diesem Haus am Ende des rumänischen Dorfs Panatau im Bezirk Buzau wohnt, etwas über hundert Kilometer nordöstlich von Bukarest in den Ausläufern der Karpaten. Das Haus beherbergt 13 Kinder, die ohne diese Unterkunft einer sehr schwierigen Zukunft entgegensehen würden. Denn Angehörige, die sich um sie sorgen könnten oder wollten, haben sie nicht. Sie wären entweder in einem staatlichen Heim untergebracht, wo die Verhältnisse wegen Mangel an Betreuungspersonal ungleich schwieriger wären, oder vielleicht auch einfach auf der Strasse.

Das Kinderheim in Panatau ist die einzige private Einrichtung dieser Art im Kreis Buzau. Seit 19 Jahren steht es unter der Leitung der am Zürichsee aufgewachsenen, ausgebildeten Krankenschwester Cornelia Fischer. Diese war einst auf einer Weltreise in Kontakt mit dem Wirken der internationalen Hilfsorganisation Amurt gekommen, die sich mit Strassenkindern beschäftigt. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, beteiligte sie sich zunächst an Hilfstransporten nach Rumänien und erhielt Einblick in die katastrophale Situation, die durch die desaströse Familien- und Sozialpolitik des kommunistischen Diktators Ceausescu entstanden war.

Ceausescu hatte dem Land in grössenwahnsinniger Vision ein substanzielles Bevölkerungswachstum verordnet, ohne dass die ausgelaugte rumänische Wirtschaft in der Lage gewesen wäre, ein solches zu verkraften. Die Zahl verlassener Kinder nahm rasant zu. Als Amurt 1991 ein Anwesen in Panatau kaufte, um ein Kinderheim

einzurichten, setzte Cornelia Fischer sich in einen Zug und fuhr nach Bukarest, um den Aufbau zu begleiten. Seither ist sie dort.

Welches Pflegekonzept?

«Unser Konzept ist eine Mischform von Grossfamilie und Kinderheim», erklärt sie. Damit befindet sie sich etwa in der Mitte zwischen den zwei anderen Formen der Betreuung von verlassenen Kindern, die es in Rumänien hauptsächlich gibt: staatliche Kinderheime und Pflegefamilien. Bei Pflegefamilien sind im Kreis Buzau rund 200 Kinder untergebracht. Ausserdem bestehen in Rumänien auch noch drei Einrichtungen des von Deutschland aus geleiteten Vereins SOS-Kinderdörfer.

Die staatlichen Heime leiden seit Jahren unter mangelnder Finanzierung, so dass nicht genügend Personal eingestellt werden kann, um den Kindern eine halbwegs adäquate Betreuung zu gewähren. Ausserdem ist das Sozialprestige des Berufs Heimarbeiter gering, so dass es sogar bei besserer Finanzlage von dieser Seite her schwierig wäre, die nötigen Arbeitskräfte zu finden.

Die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien wäre grundsätzlich die günstigste Variante für das Aufwachsen eines Kindes, das nicht in seiner eigenen Familie aufwachsen kann. Pflegeeltern erhalten finanzielle Unterstützung, die in einem Land mit armer Bevölkerung wie Rumänien notwendig und gerechtfertigt ist. Hier liegt allerdings auch die Gefahr, dass das Engagement einer Pflegefamilie primär finanziell motiviert sein kann. «Sind Pflegeeltern überfordert, was durchaus vorkommt, und schicken sie ein Kind dann zurück ins Heim, weil sie mit der Situation nicht klarkommen, ist das für das betroffene Kind eine traumatische Erfahrung mehr zu alldem, was es ohnehin schon mit sich herumträgt», erklärt Cornelia Fischer.

Misstrauen abgebaut

Eine ideale Form für die Betreuung verlassener Kinder zu finden, ist ausserordentlich schwierig - gerade in einem Land, in dem es eine verhältnismässig hohe Zahl solcher Kinder gibt. Es sind entweder Kinder aus ungewollten Schwangerschaften, die ausgesetzt oder in Spitälern zurückgelassen wurden, oder Kinder, die von den Sozialbehörden den Eltern weggenommen wurden, weil sich diese nicht willens oder fähig zeigten, für ihre Nachkommen angemessen zu sorgen. Die Arbeit der Behörden habe sich in der letzten Zeit sehr verbessert, was den Kontakt mit nichtstaatlichen Einrichtungen angehe, die sich für die Kinderbetreuung einsetzten, sagt Frau Fischer. Misstrauen, das früher bestanden habe, sei weitgehend abgebaut worden.

Blick über das Heim hinaus

Mit rund einer Betreuungsperson auf zwei Kinder arbeitet ihr Heim in Panatau unter günstigen Bedingungen - was allerdings noch nicht heisst, dass es eine einfache Arbeit wäre. Leisten kann sich Cornelia Fischer das Personal, weil aus Spendengeldern über einen Förderverein in der Schweiz ein regelmässiger Fluss von Mitteln besteht. Das

ermöglicht nicht nur eine gute Betreuung der Kinder, solange sie im Heim aufwachsen, sondern auch die Planung des schwierigen Übergangs in ein selbständiges Leben danach. «In der Pubertät tun sich manchmal bei Kindern, die zuvor gut zu betreuen waren, plötzlich ungeahnte Abgründe auf», sagt die Heimleiterin. Deshalb sei es besonders anspruchsvoll, Jugendliche durch diese Phase zu navigieren.

Mit dem Heranwachsen der älteren Heimkinder, die jetzt langsam erwachsen werden, erhalten weiterführende Aktivitäten über den Horizont des Aufenthalts im Heim hinaus zunehmende Bedeutung. Schon jetzt besitzt man in Panatau zusätzlich ein kleines Häuschen, in welchem ältere Teenager das selbständige Wohnen ausprobieren können, noch ohne aber bereits vollständig auf sich selbst gestellt zu sein, und eine Wohnung in Bukarest.

Das neueste Projekt Cornelia Fischers ist nun der Bau einer kleinen Pension in der Nähe, die Arbeitsmöglichkeiten bieten und damit einen geführten Übertritt ins Berufsleben ermöglichen soll. Hier erhält sie Unterstützung durch eine Zusammenarbeit mit Studenten der Tourismus-Fachschule Luzern, die im Rahmen ihrer eigenen Ausbildung beim Konzept mitarbeiten.

Ein Mosaikstein

Während die Kinder beim Mittagessen sitzen, tritt unvermittelt Besuch ein. Es ist der inzwischen 24-jährige Iosif, der 1993 das erste Kind im Heim Panatau war. Er wohnt und arbeitet in Bukarest und hat verschiedentlich Praktika auch im Ausland, etwa der Schweiz, absolvieren können. Wenn er aus irgendeinem Grund in Panatau zu tun hat, zeigt er sich gern im Heim. «Ich hatte ein gutes Leben hier», sagt er und lächelt. Ein schlichtes Kompliment und dennoch vielleicht der grösste Lohn für die aufreibende Arbeit, die Cornelia Fischers Team hier jeden Tag leistet. Eine Arbeit, die jede Anerkennung verdient und trotzdem nur ein kleiner Mosaikstein dessen bleiben kann, was für das Land nötig wäre.

Verein Kinderheim Panatau, Haldenstrasse 4, 8703 Erlenbach, Tel. 044 915 40 71.

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